MEIN ERSTES MAL

25. November 1964
1. FC Köln – Panathinakios Athen
Pokal der Landesmeister, Rückspiel im Achtelfinale
Endergebnis 2:1 (Hinspiel 1:1)

„Denn die Trone, die du lachs, musste nit kriesche.“ Diese Zeile aus dem Höhner-Song „Kumm loss mer fiere“ wäre mir damals ganz sicher eingefallen, wenn es das Lied zu dieser Zeit schon gegeben hätte. Einfach, weil damit perfekt ausgedrückt wird, was die kölsche Seele empfindet. Damals, das war genau am 25. November 1964, einem kalten Mittwochabend, als mir Tränen übers Gesicht kullerten, die definitiv Freudentränen waren.

Verursacher für diesen Gefühlsausbruch war mein Vater, der von der Arbeit nach Hause kam und vollkommen unerwartet zu mir sagte: „Zieh dich an, wir fahren nach Köln zum Fußballspiel.“ Nach Köln? Mann, das war eine Weltreise. Jedenfalls für mich, das damals dreizehnjährige Knäblein, dessen Bewegungsradius aus seinem Dorf heraus auf einer Landkarte mit zwei Stecknadeln hinreichend markiert gewesen wäre. Eine für das ein paar Kilometer entfernte Gymnasium, in der der Jung als erster aus dem ganzen Dorf angemeldet worden war und Pionierarbeit mit mäßigem Erfolg leistete, und eine für den Kölner Zoo, der einmal in den Sommerferien besucht worden war. Was sollte ich auch anderswo, ich war zufrieden mit meiner Begeisterung fürs Fußballspielen auf dem dörflichen Bolzplatz und der samstäglichen Radioübertragung von der noch jungen Bundesliga. Die musste sein, mein kleines heiß geliebtes Kofferradio war an Samstagen, egal wo und wie, mein fester Begleiter.


Mein Vater war eigentlich Alemannia-Fan, also der Kartoffelkäfer-Mannschaft aus dem Dreiländereck, aber der FC gefiel ihm auch. An diesem Mittwoch hatte er zwei Karten von einem Arbeitskollegen bekommen, dessen Frau morgens damit begonnen hatte, ein Kind zur Welt zu bringen, und da sollte er dabei sein. Dass mein Vater mich trotz meiner seit einiger Zeit anhaltenden Pubertäts-Trotzphase mitnehmen wollte, lag vielleicht daran, dass vielleicht kein anderer greifbar war und meine Brüder noch zu klein waren. Für mich hieß es also „Do simmer dabei“ beim Achtelfinalspiel des 1. FC Köln gegen Panathinaikos Athen im Pokal der Landesmeister. Wow, das erste Mal im Stadion in Köln, im Müngersdorfer, und das gleich bei einem ausverkauften Flutlichtspiel. Mein Leben sollte sich ändern.


Auf ging‘s im Eiltempo zur Haltestelle des legendären „Rhabarberschlittens“ - den Namen hier zu erklären, würde den Rahmen sprengen, es war die Straßenbahn (das muss reichen) – zwischen Ranzel und Lülsdorf. Wir mussten bei dem Kilometer bis dahin ganz schön Tempo machen, um das Teil noch zu erwischen, mit dem es dann nach Zündorf ging.Dann umgestiegen in die KVB und ab nach Müngersdorf. Damals fuhr die Linie 7 noch ohne das lästige Umsteigen am Neumarkt durch bis zum Stadion. Da wir an der ersten Station eingestiegen waren, hatten wir natürlich so ziemlich den besten Sitzplatz in der Bahn, ganz hinten mit Ausblick in alle Richtungen. Der Ausblick nach vorne war allerdings ab Station Poll Salmstraße, da wo die Schienen aus der freien Landschaft nach rechts auf die Straße abbiegen, nicht mehr frei. Es stiegen so viele in rot und weiß gewandete Männer ein, dass die Bahn schon fast komplett voll war. Mein Blick blieb hängen an zwei direkt vor mir hängenden mächtigen Bäuchen. Ich dachte kurz daran, meinen Platz einem der beiden kranken Männer zu überlassen – wer so einen Bauch hat, der  muss krank sein, gab mein kindlich naives Hirn mir ein – aber mein schlauer Vater verhinderte das. Später habe ich dann erfahren, was ein Bierbauch ist und dass man für den Träger eines solchen nicht unbedingt seinen Super-Sitzplatz in der Straßenbahn aufgeben muss.


Mein Gott, was war das eng, es wurde enger und enger, die Luft zum Lalala. Und dennoch, es war eine großartige Enge mit der wunderbar unverständlichen Gesprächskakaphonie, aus der immer wieder Wortfetzen „ … Runde weiter ...“, „ … die putzen wir ...“, „ … Pakineikos uder esu ...“ zu verstehen waren, mit dem unbeschreiblichen Geruchswirrwarr aus Bestandteilen, die man einzeln besser nicht beschreibt. Der Straßenbahnfahrer entschied schließlich radikal, kurz bevor es über die Deutzer Brücke ging, dass es keine weiteren Haltestellen mehr geben würde und fuhr durch bis Müngersdorf. Es muss etwas mit Schwarmintelligenz zu tun haben, dass das Aussteigen aus der Bahn so unglaublich problemlos funktionierte. Mit einem satten Seufzen öffneten sich die Türen und es lösten sich aus dem Riesenknubbel aus Leibern, Armen und Beinen einzelne Leute, und alle hatten irgend etwas rot-weißes an, das mindeste war ein selbst gestrickter FC-Schal und ich, ich hatte nix.


Was machte mein Vater? Er hatte die glorreiche Idee, sich in dem Getümmel neben den Jahnwiesen an einem Stand anzustellen, um sich eine Bratwurst zu kaufen. Bratwurst, die gab‘s bei uns zuhause höchstens mal an einem Samstag als Belohnung für irgendwas, dachte ich noch und da war es schon passiert. Mein Vater hatte meine Hand los gelassen, um das Geld aus seiner Tasche zu holen, ich schaute in die falsche Richtung, weil da gerade eine Horde von extrem lustigen Jugendlichen (Anmerkung des Schreibers: extrem lustig = besoffen, Horde = nicht zu assoziieren mit heutiger Horde) lautstark etwas über „Griechen nach Hause jagen“ grölten. Vatter war fott und nicht mehr zu finden. Die aufkommende Panik, für alle Zeiten verschollen zu gehen, habe ich damit bekämpft, mich einfach im Sog der ins Stadion strömenden Massen mitziehen zu lassen. Ohne Karte stand ich allerdings ziemlich dumm an der Einlasskontrolle, aber da hatte ich das Glück, an einen Ordner zu geraten, der seine Job noch mit Hingabe machte. Nachdem ich ihm erklärt hatte, dass ich meinen Vater verloren habe, hat der gute Mann mich mit in den Oberrang West genommen und an der Sprecherkabine abgeliefert. Alleine schon der Blick in das vom Flutlicht erhellte Rund faszinierte mich, so etwas Grandioses hatte ich noch nie zuvor gesehen … und dann saß da leibhaftig Ernst Huberty und fragte mich nach meinem Namen. Der Ernst Huberty, der immer im Radio zu hören war, und ich Winzling wurde von ihm angesprochen. Jedenfalls wurde dann über die Stadionlautsprecher ausgerufen, dass ich meinen Vater verloren habe und der mich an der Sprecherkabine abholen könne. Wer jetzt denkt, dass mein Vater in Tränen aufgelöst zur Sprecherkabine gestürmt wäre, um seinen verlorenen Sohn in die Arme zu schließen, liegt falsch. Der hat sich in aller Ruhe von seinem Stehplatz in der Kurve aus die erste Halbzeit angeschaut, kam dann in der Halbzeitpause grinsend in den Oberrang und hat von da aus mit mir den Rest des Spiels verfolgt.


Schon nach fünf Minuten waren die Athener in Führung gegangen, ich war den Tränen nahe. Ein wenig starrte ich in Richtung Fritz Ewert, es ging schließlich das Gerücht um, unser Torwart würde nach einem Gegentor vor Wut ins Gras beißen, hat er aber nicht gemacht. Ja, in diese Moment war es das erste Mal, dass es so richtig „mein FC“ war, der da auf dem Rasen stand. Gott sei Dank hat Karl-Heinz Thielen in der 19. Minute den Ausgleich erzielt, jetzt war alles drin – das Hinspiel in Athen war 1:1 ausgegangen. Und dann kam die 74. Minute, Tooor für unseren 1, FC Köln durch Christian Müller. Der FC war eine Runde weiter im Pokal, in rot-weißer Glückseligkeit fuhr ich mit meinem Vater nach Hause. Irgendwann tief in der Nacht kamen wir an. Mein Leben ist an diesem Abend entscheidend geprägt worden: Einmal FC – immer FC. Wie viele Spiele ich seitdem in Müngersdorf oder in Auswärtsstadien gesehen habe, kann ich nicht beziffern, aber es sind weit über 1000.
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Dieser Text wurde auch in Ausgabe 1/15 des Fanmagazins des 1.FC Köln Fan-Projekts "Kölsch Live" veröffentlicht